Montag, 21.5.2001
Die gute Fee von Barcelona
Allein der Lehre, dass es nie
zu spät ist, verdanken die
Bayern ihre 17. Deutsche
Meisterschaft
Hamburg - Am Ende lag der Ball
im Strafraum, acht Meter vor
dem Tor des HSV, und das war
alles, was von dieser Saison
übrig geblieben war. Elf
Hamburger, die ihr Tor
verrammelten und elf Münchner,
die eine Lücke suchten. Es war
in diesem Moment nicht mehr
wichtig, dass der FC Bayern
neun Spiele bis dahin verloren
hatte. Es war nicht mehr
entscheidend, in welcher Partie
welcher Schiedsrichter welchen
Fehler machte. All der viele
Bundesliga- Fußball, 3060
Minuten, 306 Spiele - bloß die
Ouvertüre für diesen Freistoß.
Der Ball würde, wuchtig
geschossen, eine gute
Viertelsekunde unterwegs sein
bis zum Tor. In dieser
Viertelsekunde stand für die
Bayern alles auf dem Spiel, das
vergangene Jahr, der kommende
Mittwoch, das Selbstverständnis
dieser Mannschaft, der
Betriebsfrieden. ,,Diese
Zuspitzung war unglaublich",
sagte Bayern-Ottmar Hitzfeld.
Über Gerechtigkeit
nachzudenken, macht in einer
solchen Situation keinen Sinn
mehr, denn es kann niemand
vernünftig begründen, warum das
gerecht sein sollte: einen
Freistoß in der letzten Sekunde
einer Saison zu bekommen, der
darüber entscheidet, wer
Meister wird. Wie viele
Freistöße gab es überhaupt
wegen Rückgaben zum Torwart?
Kein Dutzend wahrscheinlich.
Aber im letzten Spiel, das am
letzten Spieltag noch lief,
schloss Mathias Schober in
letzter Minute den Ball nach
Rückgabe von Tomas Ujfalusi in
die Arme wie ein kleines Kind,
das auf seinen Papa zuläuft.
Und Markus Merk, der
Schiedsrichter, machte daraus
ein Jahrhundertereignis. Man
wird ja in dreißig Jahren noch
vom 19.Mai 2001 reden, weil
sich niemand vorstellen kann,
wie es jemals spannender werden
könnte. ,,Ich wüsste nicht, wie
man das noch toppen soll",
sagte Oliver Kahn. Im letzten
Jahr wurden sie nur Meister,
weil Leverkusen in Unterhaching
verlor, schon unfassbar genug.
Kahn hielt das für die schönste
Meisterschaft. ,,Aber diesmal
war es noch extremer", sagte
er. Nicht schöner. Extremer.
Unanständig extrem.
Der Ball lag also da, Stefan
Effenberg hatte ihn sorgfältig
auf den Rasen gebettet und noch
ein paar Halme abgezupft.
Patrik Andersson eilte heran.
Die Fotografen hatten sich an
der Außenlinie aufgebaut, um
Bilder zu schießen, von denen
noch keiner wissen konnte, was
sie zeigen würden. Im Strafraum
war Gerangel, am Spielfeldrand
Apathie. Uli Hoeneß, der
Manager, hatte wieder diese
dicke Daunenjacke an, weil es
eine Glücksjacke ist. Er trägt
sie schon seit Monaten, auch
jetzt, da die Temperaturen
steigen. ,,Ich habe geschwitzt
wie ein Schwein", sagte Hoeneß,
aber er zog sie nicht aus, als
er kerzengerade auf das Urteil
wartete. Andere kauerten in der
Hocke oder lagen bäuchlings auf
der Bank. Degradiert zu
hilflosen Zeitzeugen.
Patrik Andersson hatte zuvor
kein einziges Tor geschossen
für die Bayern, in zwei langen
Jahren Bundesliga, Champions
League, Pokal. Andersson
schoss, und eine Viertelsekunde
später lag der Ball im Tor.
,,Dass der Ball an 15 Spielern
vorbei geht, ist Riesenglück",
sagte Hitzfeld. Der Hamburger
Fischer hätte nur den Fuß heben
oder Barbarez die Lücke
schließen müssen. Der Pfosten
hätte zum Leben erwachen
müssen, um ein paar Zentimeter
nach links zu laufen. Nichts
geschah. Der Ball passierte
Fischer, Barbarez, den Pfosten.
1:1.
Man hätte das niemals für
möglich gehalten, weil das 0:1
nur vier Minuten vorher
gefallen war. In der 90.
Minute. ,,Ich dachte, das
war's", sagte Uli Hoeneß. ,,Ich
hatte keine Hoffnung mehr",
sagte Karl-Heinz Rummenigge.
,,Zum ersten Mal habe ich da
nicht mehr an den Titel
geglaubt", sagte Mehmet Scholl.
Sie spürten ihn wieder, diesen
Schmerz, gegen den sie für alle
Zeiten immun zu sein glaubten
wie jemand, der die Masern
hatte. Man bekommt nie zweimal
Masern. Aber da war Barcelona
wieder. ,,Alles stand plötzlich
in Frage", sagte Vizepräsident
Rummenigge.
Alles. Die Mannschaft hatte in
dieser Bundesliga-Saison nicht
viele Stärken gezeigt, sie war
oft unsicher in der Abwehr,
hatte Schwierigkeiten, das
Spiel zu machen. Sie war kein
Genuss, aber sie rechtfertigte
sich und ihren Stil in den
letzten Wochen mit der wilden,
unmenschlichen
Entschlossenheit, mit dem
Willen, der ihr Gütesiegel
wurde. Die Szenen: der Ball,
der in Dortmund in letzter
Sekunde vom Pfosten in die Arme
von Oliver Kahn sprang; das
Tor, das Santa Cruz in der 87.
Minute in Leverkusen schoss;
der Treffer gegen
Kaiserslautern zum Schluss. Sie
hatten Manchester besiegt,
Madrid. Sie hatten sich befreit
vom Geist der fürchterlichen
Niederlage von Barcelona, als
Manchester ihnen den Europacup
entriss wie bei einem Überfall.
In Hamburg in der 90. Minute
die Meisterschaft zu verlieren,
hätte bedeutet, dass dieser
Wille gebrochen gewesen wäre.
Tatsächlich hätte das alles in
Frage gestellt, auch das
Endspiel am Mittwoch in Mailand
gegen Valencia. ,,Davon hätten
wir uns nicht wieder erholt",
glaubte Franz Beckenbauer.
Aber der böse Geist von
Barcelona ist längst eine gute
Fee geworden. Als die Münchner
nach dem Tor von Barbarez noch
mit sich rangen, ins Gras zu
stürzen wie gefällte Bäume,
flog etwas über den Platz wie
eine Erscheinung. Es war Oliver
Kahn, der sich den Ball unter
den Arm geklemmt hatte und mit
wehendem Haar zum Anstoßpunkt
rannte. ,,Ich hätte die Jungs
nicht nach vorne getrieben,
wenn ich nicht überzeugt
gewesen wäre, dass wir es
schaffen." Die Lehre von
Barcelona. Es hatte etwas
Wundersames, wie jeder, den
Kahn passierte, zu neuem Leben
zu erwachen schien. ,,Nur Dumme
machen einen Fehler zweimal",
sagte Kahn. Die Bayern aber
sind aus Schaden klug genug
geworden.
Ralf Wiegand
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